Die Welt als Labyrinth

Manierismus

Phantastische Kunst
Manierismus 1
Touristisch bietet der kleine Ort Bomarzo im Verhältnis zum nahen Rom wenig, außer dem Landschlösschen eines Fürsten aus dem alten italienischen Geschlecht der Orsini. Betritt man jedoch den dazu gehörigen Garten, steht man plötzlich in einer bizarren Landschaft, die wie aus einem verrückten Traum entsprungen scheint: Dem Parco dei mostri – dem Monsterpark. Gigantische steinerne Schildkröten kriechen über den Weg. Schiefe Häuser ducken sich an die Hänge. Überdimensionale Urnen und Felsengrotten säumen den Weg, groteske Fabelwesen reißen die Mäuler auf. Was sich kein moderner Macher von Fantasy-Filmen besser ausdenken könnte, stammt aus dem 16. Jahrhundert. Der Park ist eine damals hochmoderne Kunstlandschaft, die mit den klassischen Formen der Frührenaissance abrechnet. Er ist einer Stilrichtung verpflichtet, die Gustav René Hocke prägen sollte: dem Manierismus.
Manierismus 2
Der traditionelle Begriff des Manierismus bezeichnet eine Kunstepoche von etwa 1520 bis 1620. Der Manierismus verblüfft. Er schockiert und ist auf Effekt ausgerichtet. Anders als die frühere Renaissance, die ein Gefühl der Harmonie vermittelt, verstimmt er. Gehirn, Herz und Blut seien in einem Ungleichgewicht, meinte Hocke – in einer Disharmonie. Diese Disharmonie liegt dem Manierismus zugrunde, der für ihn auf einmal viel mehr wird, als eine Epoche der Kunstgeschichte.
Er wird ein Lebensgefühl:
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Der manieristische Mensch, so Hocke, ist ein Katalysator: Einer, der Veränderungen anstößt, ohne den alles in klassischer Harmonie erstarren würde. Der manieristische Mensch beunruhigt.5 Er ist der verdammte Macher, in dem sich Affekt und Kalkül vereinen – wie in Daidalos. Bekannt ist der geniale Ingenieur aus der griechischen Sage als Vater von Ikarus: des Jungen, der mit seinen künstlichen Flügeln der Sonne zu nahe kommt und abstürzt. Aber Daidalos ist vor allem der mythische Schöpfer des Labyrinths von Kreta. Dort wurde der Sage nach der Minotaurus gefangen gehalten, ein Wesen, halb Stier, halb Mensch. Regelmäßig wurden ihm junge Leute geopfert – dem Monster im Labyrinth.
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Das Labyrinth wurde für Hocke zum Sinnbild manieristischen Lebensgefühls. Hier verliert der Mensch die Orientierung. Die Gesetze der realen Welt werden außer Kraft gesetzt, der Raum wird zur Täuschung. Umwege werden notwendige Stationen, scheinbare Ziele sind Sackgassen. Seit jeher haben Labyrinthe die Menschen inspiriert, vermutlich stammen sie wirklich aus dem Mittelmeerraum. In Religionen spielen Labyrinthe oft eine Rolle beim Kontakt mit fremden Mächten: mit dem Totenreich oder dem Reich der Elementargeister.6 Sie sind das Sinnbild für ein ganz bestimmtes Welterlebnis. Denn dem manieristischen Menschen, so Hocke, erscheint die Welt als Labyrinth:
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Ein manieristisches Kunstwerk verstört. Es scheint nicht ganz in seine Zeit zu passen – die Bilder von El Greco oder Hieronymus Bosch wirken sonderbar modern. Manierismus, so Hocke, muss man in seiner Tiefen-Ästhetik verstehen: Er verhält sich zur Klassik wie Ketzerei zur Orthodoxie. Er ist verwandt mit Magie, mit Alchimie. Große Affekte gehen einher mit intellektuellem Spiel, mit einer Vernunft-Kunst. Manierismus ist extrem, er strotzt von Gegensätzen: er ist verrucht und keusch, rational und voller Angst vor einem zornigen Gott. Er ist künstlich, übersteigert – Ausdruck eines problematischen Verhältnisses zum eigenen Ich, ja, zur ganzen Gesellschaft. Hocke nannte es „das Unbewusste in der unterirdischen Geistesgeschichte Europas7, Manierismus ist der notwendige Gegenpol zur Klassik. Er verweist auf Gefahren, Disharmonien, auf Abgründe. Aber auch auf neue Wege. Gerade aus seiner Nachtseite kann Europa Kraft schöpfen.8
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Hockes enorm breites Wissen und eine Fülle bislang unbekannten Datenmaterials gaben ihm die
Möglichkeit einer umfassenden Studie des Phänomens Manierismus. Und er stellte fest: Weit über den kunsthistorischen Begriff hinaus ist Manierismus etwas, das er eine Ausdrucksgebärde nannte. Wenn man sich auf deren Spuren begibt, wird man zum Höhlenforscher: Denn der Manierismus wurde in der mythisch-religiösen Vergangenheit zwischen Europa und Asien geboren.
Der Weg in dieses abstruse Europa gleicht einem Pfadfinden – es gibt keine Generalstabskarte dafür. Anhand von Beispielen aus Kunst, Literatur und Musik begibt sich Hocke auf die Spur des irregulären Europa. Er zeichnet die Geschichte eines heterodoxen Weltbilds – von der Antike über die verschlüsselte Concetto-Poesie der Spätrenaissance, über Gnosis und Hermetik bis in die Gegenwart. Die Geschichte des problematischen Menschen.9 Zum ersten Mal gewinnt der Manierismus bei Hocke ein unverwechselbares Profil.
Und mehr noch:
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Manierismus ist für Hocke ein Phänomen aller Zeiten und aller Kulturen. Er sah es als seine Aufgabe an, eine manieristische Konstante in der europäischen Literatur mit Beispielen zu belegen.10 Nicht nur in der Literatur, auch in der bildenden Kunst und der Musik. Frappierende Analogien beweisen für ihn: Manierismus ist keine historische Epoche, sondern ein Lebensgefühl: von Bomarzo bis Bruno Weber, von Knossos bis Niki de Saint Phalle. In der Literatur teilte Jorge Luis Borges die Faszination für Labyrinthe mit Hocke. Umberto Eco hat Borges mit dem blinden Bösewicht Jorge von Burgos in Der Name der Rose ein literarisches Denkmal gesetzt.
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Bis heute sind Hockes Bücher zum Manierismus Standardwerke, unverzichtbar für ein Verständnis der europäischen Kunst. Für Michael Ende, den langjährigen Freund, bedeuteten sie aber noch mehr: Mit ihrer Hilfe war mir zum ersten Mal klargeworden, dass alles, was mich künstlerisch und poetisch bewegte,(...) keineswegs nur einer wirklichkeitsfernen Lust am Absonderlichen, Entlegenen entsprang, sondern einer Grundhaltung, einer „Urgebärde“, die in der ganzen europäischen Kultur, ja eigentlich in allen Kulturen der Welt, jener anderen „klassizistischen“ Gebärde komplementär und dialektisch, aber gleichberechtigt gegenüberstand. Überflüssig zu sagen, dass der Parco dei Mostri in Bomarzo zum Pflichtprogramm jedes Besuchers bei Michael Ende in seiner römischen Villa zählte.

5 G.R. Hocke: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst, Reinbek (1959), 1967, S. 301f.

6 Vgl. G. Hehn, „Labyrinth“, in: Metzler Lexikon Religion, Bd. 2,
Stuttgart 1999, S. 306 ff.

7 Ibid. S. 11.

8 Manierismus in der Literatur, Rowohlt 1959, S. 8f.

9Ibid. S. 304.

10 Manierismus in der Literatur, Rowohlt 1959, S. 21.